Einleitung

Viele Menschen stellen sich jedes Jahr die Frage „Soll ich sondertilgen?“. Sie treffen Entscheidungen, mit denen sie sich oft nicht wohl fühlen. Dabei spielen Emotionen eine wichtige Rolle (z.B. Schulden sind schlecht, der Traum vom schuldenfreien Eigenheim). Außerdem fehlen die richtigen Ansprechpartner, da die Finanzberatung in Deutschland in Produktsilos organisiert ist. Soll heißen, der Kreditvermittler hat wenig Ahnung von Alternativen zur Sondertilgung und der Versicherungsmakler hat mehr Interesse, dass das Geld nicht in die Sondertilgung fließt. Es ist eine Herausforderung, zu dem Thema eine fundierte Entscheidung zu treffen. Der Artikel soll einen Entscheidungsrahmen geben, inwiefern eine Sondertilgung für Sie sinnvoll ist.

 

 

Grundüberlegungen

Auf den ersten Blick sind die Optionen überschaubar: sondertilgen oder eben nicht sondertilgen. Die Betrachtung der Option "Sondertilgung" ist relativ einfach. So müssen nur die wichtigsten Eckdaten der Finanzierung bekannt sein, um die Wirkung einer Sondertilgung berechnen zu können. Diese Eckdaten sind:

  • Höhe des Kredits
  • Restlaufzeit des Kredits
  • Zinskondition
  • Privat vs. Vermietung

Ungleich schwieriger ist die Frage, was konkret "keine Sondertilgung" heißt. Mögliche Alternativen sind:

  • Geld für ein neues Auto oder einen großen Urlaub ausgeben
  • Geld auf dem Konto ansammeln
  • Geld am Kapitalmarkt investieren
  • Geld in Eigenheim stecken
  • Und noch jede Menge mehr

Die eigentliche Frage lautet also nicht "Sondertilgung Ja oder Nein?" sondern "Was ist meine Alternative zur Sondertilgung?".

 

Ein konkretes Beispiel: Ehepaar Sondert

Es folgt nun ein Zahlenbeispiel, damit wir uns einmal die Abwägung zwischen drei Optionen anschauen können.

Für das Ehepaar Sondert nehmen wir folgendes an:

  • Beide sind im Angestelltenverhältnis, je 35 Jahre alt, verdienen gemeinsam 100 T€ pro Jahr
  • Sie haben vor 5 Jahren eine Wohnung finanziert mit einem Kredit in Höhe von 350 T€, 15 Jahre Zinsbindung mit 2% Sollzins, die Restschuld am Ende der Zinsbindung (2031) beträgt 168 T€
  • Nach allen Ausgaben (inkl. Rate für Kredit) hat das Ehepaar noch ca. 17,5 T€ pro Jahr frei, die sie für eine der drei Optionen verwenden können.

Folgende Optionen wollen wir für Ehepaar Sondert vergleichen:

  • Option 1: Geld liegen lassen
  • Option 2: Sondertilgung
  • Option 3: Investition am Kapitalmarkt mit 6% Rendite.

 

Beim Vergleich der drei Optionen schauen wir uns für alle drei Optionen ihr Vermögen im Jahr 2031 an. Dies ist in der folgenden Grafik zusammengefasst.

 

Sondertilgung Vergleich der drei Optionen

 

 

Wir können schön den Vorteil von Option 2: Sondertilgung gegenüber Option 1: Geld liegen lassen sehen. Die jährliche Sondertilgung führt dazu, dass das Vermögen um fast 20 T€ höher ist und das Ehepaar den Kredit im Jahr 2031 bereits vollständig zurückgezahlt hat.

Option 3: Investition am Kapitalmarkt mit 6% Rendite ist mit Blick auf das Vermögen im Jahr 2031 die beste Wahl und liegt gegenüber Option 2: Sondertilgung noch mal um fast 40 T€ höher.

 

„Moment!“ werden einige innerlich aufschreien "Option 3: Investition am Kapitalmarkt ist doch risikobehaftet. Das kann vielleicht so eintreten, aber garantieren wird mir das keiner. Und außerdem 6% p.a. bei derzeit 0% von der Bank, ernsthaft?"

 

Vollkommen richtig und genau jetzt wird der Vergleich der Optionen deutlich erschwert. Die ersten beiden Optionen können wir konkret berechnen, die dritte Option weist jedoch gewisse Unsicherheiten auf. Eine Möglichkeit mit dieser Unsicherheit umzugehen ist, sich eine mögliche negative Abweichung anzuschauen im Sinne von "Was wäre wenn?". Um ein Gefühl für eine realistische negative Abweichung zu erhalten, werfen wir einen Blick in den Rückspiegel und schauen welche Renditen in Abhängigkeit der Investitionsdauer realisiert werden konnten. Diese Information ist in der folgenden Grafik dargestellt.

 

Sondertilgung Verteilung der Renditen

 

Schauen wir uns die erste Spalte mit Einträgen an. Hier sehen Sie, wie sich die tatsächlichen Renditen während den letzten 51 Jahren verteilt haben. D.h. man wäre jedes Jahr am Jahresanfang eingestiegen und am Jahresende  ausgestiegen. Je nach Höhe der Rendite verteilen sich dann die 51 Jahre auf die verschiedenen Renditeklassen. Man sieht, dass es ein sehr negatives Jahr mit einen Wertverlust von mehr als 40% gab und dass es zwei sehr gute Jahre mit mehr als 40% Wertsteigerung gab. Die restlichen Jahre verteilen sich dazwischen. Wenn wir den Anlagehorizont verlängern, z.B. auf 5 Jahre und dann schauen, wie sich die durchschnittliche Jahresrendite in den 5-Jahreszeiträumen verhält, dann wird klar, dass die Extreme ins Positive wie ins Negative seltener werden. Macht auch Sinn, da es extrem unwahrscheinlich ist 5 sehr gute bzw. 5 sehr schlechte Jahre hintereinander zu haben. Bei einem Horizont von 15 und 20 Jahren gab es sogar keinen einzigen Zeitraum mehr, in dem Sie rückwirkend betrachtet einen Verlust in Ihrem Portfolio gehabt hätten.

 

Halten wir fest:

  • Bei einem kurzen Anlagehorizont kann in beide Richtungen sehr viel passieren.
  • Je länger der Anlagehorizont desto stabiler werden die Ergebnisse.
  • Historische Werte geben eine Orientierung was alles passieren kann, stellen aber keine obere oder untere Begrenzung dar.

Für unsere Zwecke ist es erst mal ausreichend, wenn wir im Sinne eines "Bad Cases" mit der historisch schlechtesten Durchschnittsrendite in einem 5-Jahreszeitraum ausgehen. Diese liegt bei -2% p.a. Allerdings bitte ich Sie zu bedenken, dass es zwei Arten von Risiken gibt:

  1. Bei einem schlechten Ereignis dabei sein.
  2. Bei einem guten Ereignis nicht dabei zu sein.

Daher wollen wir den mindestens ebenso wahrscheinlichen "Good Case" ebenfalls betrachten. Dafür nehmen wir analog zum "Bad Case" eine überdurchschnittliche Wertentwicklung über einen solchen Anlagezeitraum i.H.v. 15% p.a.

Stellen wir nun einmal die Ergebnisse in Ihrer Gesamtheit dar, dann können Sie sich selbst ein Bild von den Auswirkungen machen.

 

Sondertilgung alle Optionen inkl. Szenarien

 

Die finanziellen Auswirkungen sollten jetzt gut greifbar sein und die meisten werden zwischen "Option 2: Sondertilgen" und "Option 3: Investition am Kapitalmarkt" schwanken. Bedenken Sie aber bitte, dass es gute Gründe geben kann, sich anders zu entscheiden. Zum Beispiel:

  1. Herr Sondert möchte sich selbstständig machen. Daher legt er das Geld lieber auf die Seite, um den Übergang in die Selbstständigkeit mit geringerem finanziellem Druck vollziehen zu können.
  2. Die Familienplanung der beiden wird konkreter und es ist absehbar, dass die bestehende Wohnung zu klein wird. Mit höheren Rücklagen ist die Suche nach dem Eigenheim leichter und mit etwas Geschick können sie sogar die bestehende Wohnung als Kapitalanlage behalten.
  3. Einer der beiden ist Teil einer Erbengemeinschaft und keiner der Erbengemeinschaft kann die anderen ausbezahlen. Hier bieten sich Investitionsmöglichkeiten.
  4. Frau Sondert hat einen Aufhebungsvertrag unterschrieben und mit steuerlich berücksichtigungsfähigen Ausgaben könnte sie ihre Steuerlast massiv reduzieren.
  5. Und viele, viele mehr

 

Fazit

Die größte Gefahr und damit gleichzeitig das größte Potenzial bei dem Thema liegt darin, dass "Sondertilgungen machen" eine Entscheidung ist, die sehr stark von Emotionen und weniger durch Risikokompetenz getrieben wird. Rechnerisch macht es sehr schnell Sinn auf eine Sondertilgung zu verzichten und etwas anderes damit zu machen. Die Herausforderung ist, das Gesamtbild im Auge zu behalten und bewusste Entscheidungen zu treffen. Insbesondere, wenn Menschen glauben vor einem "entweder oder" zu stehen, wird bei einer Betrachtung des Gesamtbildes relativ schnell klar, dass viel mehr Möglichkeiten offenstehen.

 

 

Disclaimer

Der Artikel stellt keine Empfehlung für oder gegen die Durchführung von Sondertilgungen dar. Insbesondere bei hohen Restschulden am Ende der Zinsbindung sind Menschen dem Risiko ausgesetzt, dass sie die Restschuld zu deutlich höheren Zinsen weiter abbezahlen müssen. Das ist hier in dem Beispiel nicht der Fall. Zudem sind die historischen Renditen bei einer Kapitalmarktinvestition keine Garantie für die Zukunft und können niedriger (aber auch höher) ausfallen.


Zurück